Vom Mühen um die Wahrheit
Predigt zum 10. Sonntag der Trinitatiszeit/Israelsonntag (gekürzte Version)
von Matthias Dreier
"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen."
Dieses Zitat aus der Feder von Gotthold Ephraim Lessing möchte ich sozusagen als Motto über den heutigen "Israelsonntag" stellen. Was wäre gewesen, frage ich mich 239 Jahre nach Lessings Tod, wenn sich rückblickend alle Pastoren, Bischöfe, Päpste, Konzilien und Synoden diese Worte zu eigen gemacht hätten! Wieviel Leid wäre den Menschen jüdischen Glaubens auch in unserem Land erspart geblieben, wenn sich alle Christenmenschen diese Worte zu Herzen genommen hätten!
Unser Zitat stammt von dem Autor, dem wir "Nathan, der Weise" verdanken... Hier die Schlüsselszene aus diesem Theaterstück: Sultan Saladin lässt den Juden Nathan zu sich rufen und legt ihm die Frage vor, welche der drei Religionen, Judentum, Christentum und Islam, er für die wahre halte. ... Nathan antwortet mit einem Gleichnis: Ein Mann besitzt ein wertvolles Familienerbstück - einen Ring.
Dieser Ring hat die Eigenschaft seinen Träger "vor Gott und den Menschen angenehm" zu machen. Da der Mann seine drei Söhne gleichermaßen liebt, lässt er vom Ring zwei Duplikate anfertigen. Er vererbt jedem einen Ring und versichert jedem von ihnen, sein Ring sei der echte.
Nach dem Tod des Vaters ziehen die drei Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher der drei Ringe nun der echte sei. Der Richter erinnert die Brüder an die Eigenschaft des Ringes, nämlich "bei Gott und den Menschen angenehm" zu machen. Wenn dieser Effekt bei keinem von ihnen eingetreten sei, dann müsse wohl der echte Ring verlorengegangen sein.
So gibt der Richter den abschließenden Rat: Jeder von ihnen solle daran glauben, den echten Ring zu haben. Der Vater habe alle drei gleich viel geliebt. Jeder Ringträger solle sich bemühen, die Wirkung des Ringes herbeizuführen. Diese Wirkung aber tritt nur dann ein, wenn der Täger des Ringes an seine Wirkung auch glaubt.
So weit Nathans Antwort; so weit die sog. Ringparabel.
Mit Blick auf diese Ringparabel erweitert sich der heutige "Israelsonntag" zum Tag der drei monotheistischen Weltreligionen. Juden, Muslime und Christen werden schmerzhaft und befreiend zugleich an dieses erinnert: Alle sind als Gottgläubige - bildlich gesprochen - Trägerinnen und Träger eines Ringes. Glauben wir an die Wirkung des Ringes, so macht dieser "angenehm vor Gott und den Menschen."
Amen