Pietà 1903 (Käthe Kollwitz)
Diesen Text hat Inge Heiringhoff am 3. Mai 2018 im Rahmen der Schreibwerkstatt unserer Kirchengemeinde geschrieben.
Dies ist die Geschichte von Berta und Alfons, die Geschichte zweier Liebender, und nun,
mehr noch, die Geschichte eines Abschieds.
Alfons wird 1875 in Berlin geboren. Er ist der Älteste von fünf Geschwistern und muss früh Verantwortung übernehmen. Sein Vater stirbt bereits wenige Monate nach der Geburt des jüngsten Kindes.
Alfons erlernt das Tischlerhandwerk und nimmt als Geselle oft an Veranstaltungen der Gewerkschaftsbewegung teil. Er interessiert sich zunehmend für Politik, liest viel und eignet sich mit der Zeit ein beachtliches Wissen an.
Bei einer Maikundgebung fällt ihm ein Mädchen mit langen rötlichen Haaren auf, die sie im Nacken zu einem üppigen Knoten gebunden hat. Sie steht so, dass er sie in Ruhe betrachten kann, ohne von ihr bemerkt zu werden. Sie hat eine sehr helle Haut und einige Sommersprossen auf der fast kindlichen Nase. Einmal lacht sie über einen gelungenen Witz des Redners.
Alfons würde sie gerne ansprechen.
Am Ende der Veranstaltung ergibt sich tatsächlich eine Gelegenheit: In dem Gedränge und Geschiebe vor dem Ausgang ist sie plötzlich neben ihm. Er lächelt sie an, sie lächelt zurück.
Schließlich setzen sie sich in einen Biergarten unter blühenden Kastanien und machen sich miteinander bekannt. Berta kommt „vom Lande“ und arbeitet als Kindermädchen in einer gutbürgerlichen Berliner Familie. Sie ist zwei Jahre jünger als Alfons und verdient seit ihrem
14. Lebensjahr ihren eigenen Lebensunterhalt. Berta hat schon einiges erlebt und gesehen.
Alfons gefällt das Mädchen. Sie ist schlagfertig, witzig und hat andererseits ein angenehmes und liebenswürdiges Wesen. Manchmal blickt sie ihn leicht belustigt an, weil sie merkt, dass er ihr unbedingt gefallen möchte.
Sie verabreden sich für das nächste Wochenende und die vielen, die noch folgen werden.
Alfons ist Bertas erste Beziehung, und sie ist für ihn das erste Mädchen, mit dem er dauerhaft
zusammen bleiben möchte. Nach zweieinhalb Jahren heiraten die beiden und beziehen eine kleine gemeinsame Wohnung. Es ist eine erfüllte und glückliche Zeit. Sie spüren noch die Unbekümmertheit der Jugend und sind voller Ideen und Pläne für die Zukunft. Mit ihren Freunden unternehmen sie Ausflüge, wenn das Wetter es zulässt.
Es könnte noch lange so weitergehen.
Dann wird Berta krank. Aus einer Grippe entwickelt sich eine schwere Lungenentzündung, die zur damaligen Zeit noch nicht mit Antiobiotika behandelt werden kann.
Alfons hat sich freigenommen. Er macht Berta Wickel, um das Fieber zu senken. Er versucht, sie zum Trinken zu bewegen. Der Arzt kommt täglich. Außer Aspirin und guten Ratschlägen hat er nicht viel anzubieten. Wenn das Fieber nicht sinkt, soll sie am nächsten Morgen ins Krankenhaus gebracht werden.
Bertas letzte Nacht: Alfons verbringt die Nacht neben ihr. Sie beginnt zu phantasieren und wird sehr unruhig. Er legt nasse Tücher auf ihre fiebrige Stirn und versucht sie zu beruhigen so gut er kann. Irgendwann hört sie auf zu husten. Alfons schläft gegen Morgen für kurze Zeit vor Erschöpfung ein. Als er zu sich kommt, ist es still im Raum. Ein eiskalter Schreck durchfährt ihn.
Er sieht sie an und weiß sofort Bescheid.
Wachsbleich liegt sie da. Ihre Lippen sind leicht geöffnet und geben die Zahnreihen frei. Die grauen Augen sind dunkler als sonst, blicklos. Sanft streicht er über die Lider, um sie zu schließen. Mechanisch, wie betäubt, setzt er sich im Schneidersitz auf die Matratze und zieht ihren leblosen Körper zu sich. Ausgestreckt bettet er ihn behutsam auf seinem Schoß, umschlingt ihren Oberkörper mit seinen Armen, drückt sein Gesicht auf ihre Brust. Der Kontrast zwischen seinen kraftvollen starken Armen mit den rauen Tischlerhänden, die ihren schmalen Leib umschließen, könnte größer nicht sein. Sie scheint ihm ganz leicht, fast schwerelos geworden zu sein. Ihr Hals ist ein wenig nach hinten gebogen, ihr Kopf ruht auf seinem Knie.
Die verschwitzten Haare hängen schlaff herunter.
Es ist ein Halten für die Ewigkeit. Zeitlos.
Alles scheint verschwunden, was in der Vergangenheit wichtig war. Es gibt keine Empfindung außer einer bodenlosen Leere, die ganz langsam erst einen Riss bekommt, der sich als quälender Schmerz bemerkbar machen wird. Später, wenn er sie nicht mehr halten kann und allein zurück bleibt.